Graffiti-Fotos im Internet

Urban Art ist nicht losgelöst von der Umgebung zu betrachten, da sie beabsichtigt eine Verbindung zu ihr herzustellen (vgl. Hoppe 2009, 3 f.).

Das folgende ist aus einer unveröffentlichten Bachelor-Thesis der Geographie mit dem Titel „Urban Art als partizipatives Gestaltungskonzept des öffentlichen Raumes: eine Potenzialanalyse von Graffiti und Street Art“ (von Sophia S.)

Zwar ermögliche das Internet eine erweiterte Sichtbarkeit der Werke gegenüber der jeweiligen Zielgruppe, als Trägermedium schwäche es aber gleichzeitig die visuelle Erfahrung und die Verortung im Stadtraum ab. Die zufällige Entdeckung gehe dabei verloren, das Werk werde dekontextualisiert. Meist aufgrund fehlender Umgebungsinformationen wie vorherrschender Lichtverhältnisse, die Atmosphäre der Umgebung oder rechtliche Rahmenbedingungen wie eine legale oder illegale Anbringung, die ursprünglich ein elementarer Bestandteil der Urban Art gewesen sind, jedoch vor Bildschirmen unsichtbar werden (Hoppe 2009a, 102). Als letzten ambivalenten Punkt lässt sich der, durch die Digitalisierung überwundene, Aspekt der Vergänglichkeit von Urban Art anführen. Durch die digitale Konservierung und ständige Abrufbarkeit der Werke erlangen diese zwar einen zeitlosen Status, die bislang entgegengesetzte Dynamik des Verfalls oder der Überschreibung im physischen Raum wird aber entkoppelt. Fraglich ist: Bis zu welchem Punkt entspricht das digitale Abbild des real situierten Werks noch dem charakteristischen Wesen der Urban Art? Obwohl mehr Personen durch digitale Medien erreicht werden könnten, sei die Gefahr der Oberflächlichkeit inhärent (vgl. Waclawek 2012, 179).

Urban Art könnte demnach nicht losgelöst von der Umgebung betrachten werden sollen, da sie beabsichtigt eine Verbindung zu ihr herzustellen (vgl. Hoppe 2009, 3 f.).

Quellen:
Hoppe, I. (2009a): die junge Stadt. Überlegungen zum Verhältnis von Architektur und Urban Art.
In: Klitzke, K. & C. Schmidt (Hrsg.): Street Art. Legenden zur Straße, Berlin, S. 98-107.
Hoppe, I. (2009b): Street Art und ‚Die Kunst im öffentlichen Raum‘. In: kunsttexte Sektion
Gegenwart (1), S. 1-7.
Waclawek, A. (2012): Graffiti und Street Art. Berlin.

Diesen niedlichen „Pilzis“ sieht man die Schnelligkeit des Sprayens an. Sie sind im Mainviertel der Stadt Würzburg auf einer für Urban Art nicht legalen Fläche aufgesprüht, an der zur Saalgasse bzw. dem Main zugewandten Fassade des Jugendkulturhauses Cairo. Das nach den Plänen des Landbaumeisters Peter Speeth 1826 fertiggestellte Gebäude wurde ab 1842 als Militärverpflegungsstation genutzt, ab 1849 als Militärgefängnis zur Unterbringung von Militärsträflingen. Ab 1857 diente es als Frauengefängnis, daher die Bezeichnung „Ehemaliges Frauenzuchthaus“. Ab 1909 diente es als Besserungsanstalt für Knaben, bevor diese 1935 aufgelöst wurde. Ab 1936 diente es als Jugendherberge und war Treffpunkt der Hitlerjugend. Das Gebäude überstand den Zweiten Weltkrieg unbeschadet, so dass es ab 1945 als Notlazarett genutzt werden konnte. Ab 1950 diente es als vorläufiges Quartier der Regierung von Unterfranken und von 1965 bis 1973 wurde es als Haus für die Jugend genutzt. 1986 musste das „Haus der Jugend“ schließen und wurde bis 1987 komplett renoviert. Im gleichen Jahr wurde es als Kulturzentrum Cairo eröffnet. Die Fassade übernimmt Elemente sowohl der Renaissance als auch des Barock und weist darüber hinaus eine eindrucksvolle neoklassizistische Schauwand mit angeblich ägyptisch anmutenden Verzierungen auf, weshalb dieses Gebäude auch „Ägyptischer Bau“ genannt wurde.

Im Eingangsbereich (sowie im Inneren) des Cairo ist übrigens legale Street Art zu bewundern. Und wenn man von der Innenstadt kommt, muss man durch einen Tordurchgang der Burkarder-Kirche (eine der ältesten Kirchen Würzburgs), in dem sich weitere (nicht legale) Graffiti befinden. Stadtauswärts die Saalgasse entlang folgt nach dem Parkplatz der Jugendherberge bzw. dem Jugendkulturhaus Cairo ein weiterer, längerer gekrümmter Tordurchgang mit zahlreichen Graffiti an den Wänden, auch weitere „Pilzis“. Danach überquert die Saalgasse als kurze Brücke die kleine Grünanlage mit dem Burkarder See. Folgt man der Saalgasse weiter bis zur Leistenstraße, überquert diese zu einem kleinen Fitness-Center, geht an diesem vorbei ein Stück die Mergentheimer Straße entlang und überquert diese an einem weiteren Fußgängerüberweg, dann kommt man an eine kurze Unterführung mit farbenfrohen Graffitis, die aufwändiger, zeitintensiver gestaltet worden sind. Dies ist offenbar eine legale Fläche. In diesem Bereich der Stadt haben wir also einen der wenigen Urban Art-Hotspots Würzburgs.

Dieser hingehuschte „citystroller“ (der ein bisschen an den in den 1980er und 1990er Jahren in Köln verbreiteten ‚Neue Höhlenmalerei‘-Stil der ‚Cologne Graffiti‘ erinnert), befindet sich ganz in der Nähe in der Burkarder Kirche am Gebäude des Pfarramts Sankt Burkard in der Burkarderstraße kurz vor deren Einmündung in die Saalgasse.

Überhaupt ist diese Gegend ein Ausschnitt meines sogenannten Würzburger Lieblingsorte-Spaziergangs, derjenige, der sich in Würzburg als der eigentliche, einzige wirklich attraktive, immer wieder einigermaßen inspirierende Stadtspaziergang herausgebildet hat. Es ist der Spaziergang, den ich gehe, um Besuch die Stadt zu zeigen, oder den ich auch gelegentlich als Exkursion mit Studierenden durchführe. Auch meine Jogging-Routen bzw. Laufstrecken sind im wesentlichen aus Teilen des Lieblingsorte-Spaziergangs zusammengesetzt. Ein Vorteil dieses Spaziergangs ist es, dass die Route – so gut es geht – die Fußgängerüberwege meidet, an denen man quälend lange auf Grün warten muss, was in dieser Stadt, die immer noch als autofreundlich bzw. autogerecht bezeichnet werden kann, recht häufig ist.

>>>>>

Eigentlich zweifelt er nicht an der Erquicklichkeit von ausgedehnten Spaziergängen, sie wirken entspannend und inspirierend – aber hier an diesem Ort, in dieser Stadt mag ihm das nicht so wirksam widerfahren.  Viele Schriftsteller haben selbst-bekennend superlative Lobpreißungen auf das Spazierengehen von sich gegeben, ohne auf die Umgebung oder auf Ihren Aufenthaltsort zu verweisen. Es scheint sich also um einen fundamentalen, völlig orts- und kontextunabhängigen Erfahrungsschatz zu handeln. Die überaus wohltuenden, geradezu heilsamen und produktiven Wirkungen von Spazierengehen dürften im Spiegel dieser Aussagen nicht angezweifelt werden. Zum Beispiel Sören Kierkegaard: „Verlieren Sie vor allem nicht die Lust dazu zu gehen: ich laufe mir jeden Tag das tägliche Wohlbefinden an, und entlaufe so jeder Krankheit; ich habe mir meine besten Gedanken angelaufen, und ich kenne keinen Gedanken, der so schwer wäre, dass man ihn nicht beim Gehen los würde. […] Gehen! Es ist ja auch klar am Tage, dass man durch Gehen dem Wohlbefinden so nahe kommt, wie es einem möglich ist, selbst wenn man es nicht ganz erreicht, – beim Stillsitzen aber, und je mehr man stillsitzt, kommt einem das Übelbefinden nur umso näher. Allein in Bewegung ist die Gesundheit und das Heil zu finden. Leugnet jemand, dass es die Bewegung gibt: so tue ich wie Diogenes, so gehe ich. Leugnet jemand, dass die Gesundheit in der Bewegung liegt, so gehe ich allen krankhaften Einwänden davon. Bleibt man so am Gehen, so geht es schon. (…) Ich war an die anderthalb Stunden spazieren gegangen, hatte viel zu denken gehabt und war vermöge der Bewegung mir selbst ein äußerst angenehmer Mensch geworden. Welch ein Glück, und Sie können sich wohl denken, welch eine Sorglichkeit, um womöglich mein Glück nach Hause zu retten.„[1] Oder Robert Walser: „‚Spazieren‘ (…) muss ich unbedingt, um mich zu beleben und um die Verbindung mit der lebendigen Welt aufrechtzuerhalten, ohne deren Empfinden ich keinen halben Buchstaben mehr schreiben und nicht das leiseste Gedicht in Vers oder Prosa mehr hervorbringen könnte. Ohne Spazieren wäre ich tot, und mein Beruf, den ich leidenschaftliche liebe, wäre vernichtet. (…) Ohne Spazieren würde ich ja gar keine Beobachtungen und gar keine Studien machen können. Auf einem schönen und weitschweifigen Spaziergang fallen mir tausend brauchbare, nützliche Gedanken ein. (…) Spazieren ist für mich nicht nur gesund und schön, sondern auch dienlich und nützlich.„[2] Er fühlt sich direkt angesprochen – „Ein so gescheiter Mann wie Sie darf und wird das augenblicklich begreifen„[2] – und schämt sich ein bisschen. Denn ihm kommt es vielmehr so als ob diese Innenstadt permanent stillsitzt unterhalb der Festung und eingezwängt vom Ringpark. Wie soll er in der natürlichen Bewegung des Gehens eine Resonanzempfindung entwickeln können in einer Umgebung, die ihm still- oder festsitzend vorkommt? (…) Ironischerweise kann er eine Resonanz zur Umgebung während der Lockdowns, bei denen Spazierengehen mit Angehörigen aus einem Haushalt oder mit dem Hund noch erlaubt ist. Wie es um Robert Walsers Befindlichkeit während der ganz strengen Lockdowns stehen würde? „Zu Hause eingeschlossen, würde ich elendiglich verkommen und verdorren.“[2] (…) Der öffentliche Raum in Würzburg kann durchaus belebt sein, vor allem an schönen Tagen im Ringpark und an den Mainufern bemerkt man urbane Vitalität oder Leben in der Stadt. Die Einkaufs-City ist selbstverständlich immer belebt, dort ist Bewegung – während der genehmigten Öffnungszeiten, zwischen den Filialen, die Standard sind für solche Lagen in einer Stadt dieser Größenklasse. Auch eine Galeria-Kaufhof Filiale ist Würzburg bis jetzt sogar erhalten geblieben. In Würzburg wird die Bewegung des Gehens jedoch außerhalb der Fußgängerzonen der Einkaufs-City sehr regelmäßig unterbrochen von penetranten Fußgängerampeln, an denen man quälend lange warten müsste, wenn man es nicht bevorzugen würde, einfach bei Rot über die Straße zu gehen, was hier, obwohl es sich geradezu aufdrängt, selten zu beobachten ist (im Vergleich zum Beispiel zu Frankfurt). Es lässt sich nun nicht vermeiden, Entschuldigung, aber es folgt eine Aufzählung der Fußgängerampeln mit berüchtigt langen Rotphasen: (…) diejenige über den Röntgenring von der Koellikerstraße zum Ringpark, die geradezu extrem passantenfeindliche von der Alten Mainbrücke über die Saalgasse, (…) und um zu einem (vorläufigen) Ende dieser unsagbar spießbürgerlichen, orthodox-autofeindlichen Aufzählung zu kommen: die Fußgängerampel über die Balthasar Neumann Promenade am Übergang Hofstraße zum  Residenzplatz. Ach ja, die Residenz: jedes Mal wenn er über den Residenzplatz radelt, fällt ihm ein, dass er der Deutschen UNESCO-Kommission gerne mal schreiben würde, den Welterbestatus der Residenz zu überdenken, weil der Residenzplatz als Parkplatz genutzt wird. Er wird diesen Brief aber niemals schreiben, denn letztlich ist es ihm egal was mit dem Residenzplatz geschieht. Solche Ideen kommen ihm beim relativ langen Warten an der Fußgängerampel. Letztlich ist er auch dem Autoverkehr in der Stadt nicht wirklich abgeneigt, denn nur im Kontrast zum Autofahren kann er sich als Radfahrer freier, spontaner und in der Fortbewegung souveräner fühlen. Dieses Freiheits- und Überlegenheitsgefühl nicht-gegängelter Mobilität bzw. Fortbewegung würde weggeregelt werden, wenn den Radfahrer*innen konsequent ein ähnliches Verkehrswegesystem und -konzept auferlegt werden würde, wie es dem Autoverkehr – zu Recht – zugemutet wird. Spazierengehen ist jedenfalls nicht seine Lieblingsbeschäftigung in Würzburg, aber an manchen Tagen helfen psychogeographische Tricks, wie z.B. ein assoziatives fotografierendes Flanieren, um aus dem einfachen Spaziergang einen inspirierenden oder sonstwie produktiven Gang zu machen. 

[1] Sören Kierkegaard: Ich habe mir die besten Gedanken angelaufen, S. 119. In: Die Kunst des Wanderns. Ein literarisches Lesebuch, hrsg. von: A. Knecht & G. Stolzenberger, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, S. 119-120.
[2] Robert Walser: Scheinbarer Müßiggang, S. 121. In: Die Kunst des Wanderns. Ein literarisches Lesebuch, hrsg. von: A. Knecht & G. Stolzenberger, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, S. 121-124.

– Auszug aus Roman-Manuskript „Kontextsensitiv“, Kapitel 1 – Einführung: Von Würzburg ausgehend ….

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert